Zwischen Natur und Geschichte: 544 Kilometer und neun Tage mit dem Fahrrad auf dem „Grünen Band“ von Vienenburg bis Travemünde

Ein Reisebericht von Volker Otter

Auf dem Weg nach Salzwedel

Früher Wachturm, heute Graffitti-Objekt
Wachturm als Graffiti-Objekt

Ein wenig verwundert waren wir schon, wenn wir einigen unserer Freunde von unserem Projekt erzählten, das Grüne Band mit dem Fahrrad abfahren zu wollen. „Grünes Band? … Sagt mir nichts. Wo ist das?“ Vor allen Dingen stellt sich die Frage: Was ist das Grüne Band? Ist es die Geschichte zweier getrennter deutscher Staaten? Ist es die Geschichte der innerdeutschen Grenze, des ehemaligen Todesstreifens, der unüberwindbaren Grenze, die die Welt in zwei Blöcke zerschnitt? Ist es eine heilende Wunde? Oder ist dies alles zu kurz gegriffen? Die Antworten darauf können vielfältig ausfallen. Für uns ist klar, dass es sich um eine Reise im Rahmen einer Erinnerungskultur handelt, die wir in Einklang mit unseren persönlichen Erfahrungen aus dieser Zeit bringen wollen. Darüber hinaus ist es aber auch eine Reise durch wunderschöne Landschaften und Naturräume, die erst durch diese todbringende Grenze und die daraus entstandene Abgeschiedenheit entstehen und wachsen konnten. Dies birgt manchmal absurde Widersprüche in sich, die nicht einfach aufzulösen sind, der Widerspruch von aktueller Natur-Schönheit, Lebensraum-Vielfalt, dem Blick zurück in die menschenverachtende Geschichte dieser Grenze und der Abgleich mit dem „Hier-und-Jetzt“ unseres Landes.

Unsere Vorbereitungen für die Radtour

In der Vorbereitung auf unsere Tourenplanung lassen wir uns von dem Buch Radtouren am Grünen Band von Stefan Esser mit einer sehr detaillierten Wegbeschreibung inspirieren, als Kartenmaterial greifen wir auf eine Karte der AFC-Radtourenkarte (1:150.000) und die für uns optimalen Kompass-Radtourenkarten (1.70.000) zurück. Außerdem nutzen wir das erste Mal eine GPS-gestützte App, die uns anzeigt, wo wir uns auf der Karte befinden. Unsere Routen planen wir aber unabhängig und flexibel. In der Regel werden wir zwischen 50 und knapp 80 Kilometern pro Tag fahren. Wir nutzen eine Kombination verschiedener Radwege und „Eigenkreationen“, werden oft dem Iron Curtain Trail folgen, nutzen den Allerradweg, den Elberadweg und folgen dem Grünen Band oft genug auf Wegen, die niemand kennt.

Gedenkstätte Mattierzoll zwischen Harzer Vorland und Drömling
Gedenkstätte Mattierzoll zwischen Harzer Vorland und Drömling

„Das Grüne Band“ die Dritte – es geht los

Nachdem wir den Harz auf dem Grenzwanderweg zu Fuß von Süd nach Nord durchwandert und das Grüne Band in Teilen der Rhön mit Mountainbikes erkundet hatten, war die Entscheidung klar, dass für uns eine lange Gepäcktour nur für den nördlichen Teil in Frage kam. So packen wir unsere Räder zusammen mit uns und einem 9-Euro-Ticket in zwei Regionalexpress-Züge und fahren nach Vienenburg (kurz nördlich von Bad Harzburg), Deutschlands ältesten, noch im Dienst befindlichen Bahnhof. Wir merken schnell, dass das Grenzgebiet einsam ist, geprägt von kleinen Dörfern und Städtchen (Hornburg), in denen die Zeit stillzustehen scheint. Wir fahren über asphaltierte Sträßchen, mit alten Betonplatten belegte Feldwege und Schotterwege. Manchmal werden wir gut durchgeschüttelt. Menschen sehen wir kaum, die Tour führt uns durch eine sehr einsame Gegend, links und rechts abgeerntete Felder, Gräben (an denen die Grenze verlief), mit begleitenden Bäumen, Baumgruppen, der Blick zum Horizont, manchmal irgendwo ein Dorf, Brombeeren, auffliegende Vogelschwärme, eine manchmal poetische und herbe Spätsommerstimmung. Wir beenden unsere erste Etappe in Schöningen, einem kleinen, verschlafenen Städtchen im ehemaligen Braunkohlerevier bei Helmstedt.

Schmale Sandwege am Steimker Graben im Drömling
Schmale Sandwege am Steimker Graben im Drömling

Bei „radel-unfreundlichen“ 38 Grad fahren wir zunächst durch das ehemalige, renaturierte Braunkohleabbaugebiet bei Helmstedt, wechseln über in den schattigen Lappwald (herrlich bei den Temperaturen) und gelangen in eine Gegend, von der nur die Wenigsten gehört haben dürften, den Drömling. Verschiedene Kleinflüsse und Auen schufen einst eine undurchdringliche Niedermoorwildnis, die über Jahrhunderte über unzählige Gräben entwässert und so urbar gemacht wurde. Heute präsentiert sich ein weiter, einsamer Landstrich, von unzähligen Gräben, Feuchtwiesen, Auwäldern und Niedermoorresten durchzogen. Mit Glück findet man hier Schwarz- und Weißstörche, Biber, Otter, Wölfe und nur wenige Dörfer und Menschen. Wir sind tief beeindruckt von so viel Einsamkeit und Schönheit auf unserem Weg entlang dem Steimker Graben durch den Drömling. Hier darf man sich Zeit und den Blick schweifen lassen, wenn uns nicht die Sonne das Hirn wegbrennen würde. Die letzten der insgesamt 71 Kilometer bis Brome sind lang und heiß.

Am nächsten Tag streifen wir die Altmark mit ihren Alleen, uralten Dörfern mit ihren wunderschönen, kleinen Kirchen sandigen Feldwegen und alten Kopfsteinpflasterstraßen (kein Fahrvergnügen!!!) und weiten Blicken. Wir verlassen die Altmark, das Grüne Band verläuft nun entlang dem Flüsschen Dumme, ebenfalls ein natürliches Kleinod. Wir kommen in das südliche Wendland und landen schließlich nach 66 Kilometern bei immer noch satten Temperaturen weit über 30 Grad in Bergen a.d. Dumme auf dem Campingplatz: klein, übersichtlich, supernette Gastgeber, schattige Zeltwiese, Naturbadeteich mit Fröschen und Ringelnatter. Was will man mehr?

Berüchtigtes Kopfsteinpflaster in der Altmark
Berüchtigtes Kopfsteinpflaster in der Altmark
Entspanntes Zelten in Bergen
Entspanntes Zelten in Bergen

In der Nacht fängt es an zu regnen, was sich bis in den nächsten Vormittag hineinzieht. Auf Feldwegen, die mit schmalen Betonplatten belegt sind und später auf dem Kolonnenweg entlang von Gräben und der Jeetze gelangen wir zur Gedenkstätte für Hans Frank, der hier im Januar 1973 von einer von der DDR-Führung lange geleugneten SM-70-Splittermine (Selbstschussanlage) schwerverletzt wurde, es auf westdeutsches Gebiet schaffte und wenig später seinen schweren Verletzungen im Krankenhaus erlag. „Hier und Jetzt“ dort zu stehen ist eigenartig, im Nirgendwo, in einem riesigen und wunderschönen Naturschutzgebiet (Blütlinger Holz) inmitten von feuchten Wiesen und Auwald. Und doch ist es so wichtig, sich davon und von der Geschichte berühren zu lassen.

Wir fahren weiter auf dem Grünen Band nach Salzwedel, der einst stolzen Hansestadt, mit ihrer herrlichen Bausubstanz, der man heute aber ansieht, dass hier heute kein Handel mehr floriert. Auf dem städtischen Campingplatz am Arendsee ist heute nach knapp 60 Kilometern Schluss. Der Campingplatz wirft einen in eine Zeitreise zurück in die Vergangenheit, im weitläufigen Kiefernwald reiht sich eine Wohnwagen-Datsche an die andere. Gruppen feiern ausgelassen und doch scheint man sich zu tolerieren. Wir bekommen glücklicherweise einen ruhigen Platz zugewiesen, den Besuch der sanitären Anlagen beschränken wir auf das Nötigste, die Dusche verschieben wir auf morgen.

Auf dem Kolonnenweg, endlose Schneise durch Kiefernwald am Wirler Winkel
Auf dem Kolonnenweg, endlose Schneise durch Kiefernwald am Wirler Winkel

Hinter Ziemendorf halten wir uns links auf einem sandigen Weg, der uns zum Grenzstreifen „Wirler Spitze“ führt. Eine riesige Schneise wurde hier in den Kiefernwald geschlagen, in der sich so eine Dünen- und Heidelandschaft entwickeln konnte, die heute vom BUND gepflegt und offengehalten wird, wieder ein eindrucksvoller Widerspruch: eine künstliche Schneise für eine todbringende Sperranlage und das, was sich daraus entwickelt hat. Hier gibt es sie noch: Kreuzotter, Ameisenlöwe, Grenzpfahl und Gitterzaun. Wir holpern auf dem Kolonnenweg, der hier leidlich fahrbar ist, durch dichten und urigen Kiefernwald bis zu einem Grenzturm und halten uns weiter Richtung Schnackenburg an der Elbe. Wir passieren vorher noch die Gedenkstätte Stresow, wo eindrücklich an das kleine Dorf erinnert wird, das hier einmal stand und geschleift wurde, einfach ausradiert. Wir setzen über die Elbe und folgen dem Fluss abwärts, pures Genussradeln. Wir genießen die weite Wiesenlandschaft, die mit Baumgruppen und alten Einzelbäumen durchsetzt ist und die Elbe selbst, die bei niedrigem Wasserstand mit Sandstränden und -bänken aufwartet. Wo wir können (und dürfen) bleiben wir auf dem alten Deich. Bis Dömitz kommen wir an kleinen Elbdörfern vorbei, manche laden zu Kaffee und Kuchen ein. In Dömitz kommen wir nach 60 Kilometern auf dem netten und entspannten Zeltplatz an der Schleuse des Wassersportzentrums unter, nehmen ein kühles Getränk auf der kleinen Hafenterrasse zu uns und machen nach einem Gang in das Städtchen Bekanntschaft mit dem Dömitzer Stadtbiber.

Ehemalige Eisenbahnbrücke bei Dömitz
Ehemalige Eisenbahnbrücke bei Dömitz

Weiter geht es auf dem Grünen Band an der Elbe entlang, kurz hinter Dömitz fahren wir durch die Dorfrepublik Rüterberg mit ihrer kuriosen Geschichte. Auf der anderen Flussseite winken wir Hitzacker zu und finden bei Vockfey die Denkpyramide für die geschleiften Ortsteile Kohleplant und Pommau, geblieben sind ein Trafohäuschen und eine Wiese, wo über Jahrhunderte und Generationen Menschen lebten. Aus den geborgenen Trümmern der geschleiften Häuser wurde eine Pyramide gebaut, sehr eindrücklich und berührend für uns, da nicht weit von uns eine Frau auf ihrer Terrasse eine langsame und traurige Weise mit der Violine spielt, die zu uns herüberweht. Bei Stiepelse wird das Bedürfnis nach Kaffee und Kuchen nach viel Gegenwind übermächtig. Im Café Plan-b genießen wir den Café-Garten und handgebrühten Kaffee mit einem fetten Stück Kuchen dazu, herrlich. In Bleckede entscheiden wir uns dazu, unsere Etappe zu verlängern und weiter bis zum Lanzer See zu fahren (79 Kilometer), verlassen also die wunderschöne Elbe bei Lauenburg und halten uns nördlich bis zum Lanzer See und Campingplatz mit einer schattigen Zeltwiese.

Denkpyramide bei Vockfey an der Elbe
Denkpyramide bei Vockfey an der Elbe

Vom Lanzer See ist es nur ein Sprung in das Biosphären-Reservat Schalsee, den wir auf der östlichen Seite umrunden, um nach 63 Kilometern im Schalsee-Camp des Kanu-Centers am klaren Pipersee (herrliche Badestelle!!!) unweit von Dargow anzukommen. Vorher aber führt uns der Weg zu der für uns eindrücklichsten Gedenkstätte für Michael Gartenschläger, der nach einem Aufbegehren gegen das DDR-Regime als Jugendlicher zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, um später von der BRD freigekauft zu werden. Von hier aus ist er als Fluchthelfer tätig, bevor er den ersten offiziellen Nachweis des Gebrauchs der berüchtigten und vom Regime verleugneten Existenz der SM-70-Selbstschussanlagen liefert, indem er zweimal die Grenze von West nach Ost überwindet und jeweils eine Splittermine demontiert und im Westen den Medien und der Politik präsentiert. Die Medienpräsenz düpiert die DDR-Führung. Bei einem dritten Versuch wartet bereits ein Stasi-Killerkommando, das Michael Gartenschläger in einem Hinterhalt erwartet und mit 120 Schüssen im Sperrfeuer ermordet. Seine Leiche wird als namenlose Wasserleiche deklariert in Schwerin verscharrt. Nach einem weiteren Milliardenkredit ist die DDR-Führung bereit, die Selbstschussanlagen zu demontieren. Ein stiller Ort im Kiefernwald, nur ein kleiner Hinweis auf die Gedenkstätte mit großer Wirkung auf uns.

Wir kürzen den Iron Curtain Trail nach Ratzeburg etwas ab. Wieder ist es Zeit, einen Kaffee zu trinken. Das Barlach-Museum und die Barlach-Bronzen in den beiden Kirchen bieten viel Zeit für Betrachtungen, Nachdenken und Genießen, bevor wir auf der östlichen Seite des Sees auf Waldwegen an die Nordspitze fahren, wo die Wakenitz in den See mündet und das Wakenitz-Camp (Kanu-Center) mit seiner schönen Zeltwiese auf uns wartet. Wir halten (leider erfolglos) nach den hier lebenden Nandus Ausschau, die irgendwann in dieser Gegend in Freiheit gelangten und sich hier etablierten.

Auf dem alten Deich durch die Elbtalauen
Auf dem alten Deich durch die Elbtalauen

Auf unserer letzten Etappe nach Travemünde-Ivendorf (48 Kilometer) queren wir die Wakenitz, den Amazonas Norddeutschlands. Eine kleine Brücke führt über den Fluss, der vorher die unüberbrückbare Grenze zwischen zwei Systemen war. Heute ist er ein Eldorado für Fischotter, Biber und Schwarzstorch, gesäumt von tiefen, sumpfigen Auwäldern und Feuchtwiesen. Auf der anderen Seite halten wir bei der Gedenkstätte für das ehemalige Dorf Lenschow inne, ein Gedenkstein mit Blick auf eine Wiese, auf der man noch das Fundament eines Trafo-Häuschens erkennen kann, auch hier wurde eine Jahrhunderte alte Geschichte einfach ausradiert. Parallel zu Wakenitz fahren wir über Schattin und Herrnburg nach Lübeck hinein, durch die Moorgebiete Palinger Heide folgen wir dem Landgraben, der uns einige Mückenstiche beschert. Über kleine Landstraßen und später die Bundesstraße gelangen wir über Dassow zum Priwall, unser eigentliches Ziel. Am Hafen am Museumsschiff Passat lassen wir uns noch etwas Kuchen schmecken, bevor wir uns zur Fähre nach Travemünde aufmachen. Auf dem Campingplatz in Ivendorf noch schnell das Zelt aufbauen, um dann das Ende unserer Tour mit einem Bad in der Ostsee am weiten (und vollen) Strand in Travemünde zu beenden. Eine kleine große Reise, neun Tage, in denen wir die Zeit aus dem Blick verloren und plötzlich und verdutzt feststellten, dass sie zu Ende ist. Ein gutes Zeichen dafür, dass wir unterwegs gewesen sind.

Geschafft, im Hafen von Priwall
Geschafft, im Hafen von Priwall

Kennst du das Grüne Band oder bist es vielleicht schon selbst gefahren? Wir freuen uns, wenn du deine Erfahrungen mit uns teilst. 

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