Unsere Wanderung auf den höchsten Berg Norwegens fällt unter die Kategorie „Na, hätten wir das mal früher gewusst….“ Doch zunächst einmal zum Anfang der Geschichte….
Die freundliche Angestellte der Touristeninformation in Beitostølen gibt sich redlich Mühe uns Wanderungen für den Aufenthalt im Jotunheimen Nationalpark zu empfehlen, wobei uns das seltsame Gefühl beschleicht, dass sie dabei vordergründig den marktwirtschaftlichen Aspekt im Auge hat. Eine geführte Tour hier, ein Shuttleservice da, eine Bootstour dort, es scheint kaum eine Wanderung zu geben, die nicht mit irgendeinem touristischen – und selbstverständlich kostenpflichtigen – Service verbunden ist. Im Prinzip haben wir auch kein Problem damit, wir möchten aber einfach nur ein bisschen Wandern gehen, ohne dabei ein kleines Vermögen ausgeben zu müssen (unsere Kosten belaufen sich ja immer mal vier). Organisierte Touren sind ebenfalls nicht unser Ding, weshalb wir einer geführten Gletschertour auf den Gipfel des Galdhøpiggen keine weitere Beachtung schenken. Auf meine Nachfrage, ob man den höchsten Berg Norwegens auch ohne Führung besteigen kann, nickt die Dame wissend und zeigt uns kurz und ohne weitere Ausführung von welcher Fjellstation aus das möglich ist.
Bingo, das ist doch genau das was wir suchen, eine Tageswanderung zum höchsten Berg des Urlaubslandes, hört sich in meinen Ohren verlockend an (Erinnerungen an Schottland werden wach). Ohne weitere Fragen habe ich diese Wanderung in meinem Kopf gespeichert. Einen Tag später lade ich die Tourdaten über die Webseite des norwegischen Wanderverbandes auf mein Handy und studiere sie kurz. Spätestens hierbei hätte mir auffallen müssen, dass die Wanderung in die höchste Schwierigkeitsklasse eingestuft wird, die der norwegische Wanderverband vergibt. Doch das „besonders schwierig“ habe ich glatt überlesen. Vielmehr interessierten mich die Höhenmeter im Verhältnis zu den Kilometern. Das ist für mich immer ein ausreichender Gradmesser für die Schwierigkeit des Wanderweges (zumindest war es das bisher). Die Strecke von der Fjellstation Spiterstulen auf den Galdhøpiggen (2.469 m) bemisst sich auf 5,8 Kilometer. Auf diesen knapp sechs Kilometern müssen 1.400 Höhenmeter überwunden werden. „Uff! Das ist viel“, war mein erster Gedanke, jedoch mit dem zweiten warf ich meine Bedenken meilenweit über Bord. „Auf den Ben Nevis in Schottland waren es damals auch nur unwesentlich weniger Höhenmeter auf einer ähnlichen Strecke – Punkt!“ Gesagt, geplant, machten wir uns auf den langen Weg, fast einmal um den Jotunheimen Nationalpark herum, ins Tal Visdalen zur noblen Bergresidenz Spiterstulen.
Gänzlich kostenfrei wird auch diese Wanderung nicht werden, da es sich bei der Zufahrtsstraße ins Visdalen Tal um eine Mautstrecke handelt. Die Gebühr wird an der Bergstation Spiterstulen entrichtet. Über eine Stunde dauert unsere abenteuerliche Fahrt über die 20 Kilometer lange Schotterstraße zur Bergstation Spiterstulen. Dort angekommen staunen wir nicht schlecht, da es sich nicht – wie vermutet – um eine einfache Fjellstation handelt, sondern um einen mondänen Berg-Hotel-Komplex mit allen Annehmlichkeiten einer noblen Residenz. Eine riesige Lobby empfängt uns auf unserer Suche nach einer bescheidenen Rezeption, die in ein tanzsaalgroßes Kaminzimmer übergeht. Eine Sauna und einen Indoor-Pool soll es auch geben. Wir sind fasziniert und schockiert zugleich. Leicht verstört vor so viel Prunk in der Wildnis entrichten wir unsere Campinggebühr und beziehen einen anspruchslosen Stellplatz mit Plumpsklo ca. einen Kilometer von der Bergvilla entfernt.
Das Visdalen Tal wird von den höchsten Bergen Norwegens eingerahmt. Der mächtige Gletscherfluss Visa bahnt sich seinen Weg durch das Tal, und seine wild rauschende Musik wird uns zur Einschlafmelodie. Leider funktioniert das bei mir in dieser Nacht nicht. Viel zu lange liege ich wach und male mir den nächsten Tag aus. Was, wenn wir uns mit dieser Tour übernommen haben? Meine Gedanken kreisen stundenlang um sich selbst, bis am östlichen Firmament das schwache Licht des kommenden Tages eine kalte und sternenklare Nacht verabschiedet.
Ziemlich gerädert suchen meine von der Kälte klammen Finger nach dem Handy, dessen Klingelton aggressiv in meinen Ohren schrillt. Bis ich es endlich gefunden habe, sind wenigstens alle wach. Es ist kurz nach 7 Uhr, eine ungnädige Zeit zum Aufstehen. Aber es hilft ja nichts. Nachdem wir unser Camp abgebaut und ein dürftiges Frühstück zu uns genommen haben, starten wir gegen 8.30 Uhr unsere Wanderung. Wir sind beileibe nicht die ersten, die um diese Zeit starten. Die meisten Wanderer, die in Norwegen sehr früh zu ihren Touren aufbrechen sind allerdings ausländische Touristen. Die Norweger selbst starten meist viel später. Sind sie es doch gewohnt die langen Sommertage effizient auszunutzen.
Über eine Holzbrücke gelangen wir auf die andere Seite des Tals. Wir folgen dem Wegweiser Galdhøpiggen nach rechts. Der Pfad führt zunächst über ein weiteres Campinggelände, an dessen Ende uns das bekannte rote T begrüßt. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, denke ich bei mir und folge meinen Kindern, die munter quatschend federleichten Schrittes den steilen Hang erklimmen.
In steilen Serpentinen schlängelt sich der Pfad, zunächst flankiert von halbhoher Flora, in die Höhe. Die ersten hundert Meter sind relativ gut begehbar, doch es dauert nicht lange, da erwartet uns das erste Geröllfeld. Die Stöcke werden verstaut und wir klettern über dieses erste Hindernis, welches – was wir leider noch nicht wissen – nicht das letzte sein wird.
Um das Drama ein wenig zu verkürzen: Von den 5,8 Kilometern bestehen fünf aus Geröllfeldern, Schneefeldern und steilem Blockgelände (für alle, die nicht wissen was ein Blockgelände ist: das sind Geröllfelder aus großen – oft mannshohen – Steinblöcken). Schon sehr früh wird mir bewusst, dass es sich hier nicht um eine gemütliche Wanderung handelt, sondern um eine schwere Bergtour, die nichts mit dem zu tun hat, was wir eigentlich gewohnt sind. Dennoch kraxeln wir tapfer dem Gipfel entgegen. Unsere Wanderstöcke werden zumindest beim Aufstieg zu einem absolut überflüssigen Utensil. Unsere Jugendlichen sind taff und zeigen lange keine Ermüdungserscheinungen. Mit einer lockeren Gelassenheit überwinden sie auch kritische Stellen meisterhaft. Ich bin heilfroh, dass wenigstens meine Kinder feste Bergschuhe tragen. Wir Erwachsenen müssen mit unseren leichten Wanderhalbschuhen höllisch aufpassen, dass unsere Fußgelenke diese Tour heil überstehen.
Von unserem qualvollen Weg lenkt uns nur die fantastische Bergwelt um uns herum ab. Es ist ein Traum in Weiß, Schwarz und Grau. Zu unserem Glück ist das Wetter heute grandios, und bietet Ausblicke, wie man sie hier sicher selten hat.
Lange kann man den Gipfel des Galdhøpiggen nicht einsehen. Beim Erreichen des ersten Gipfels Svellnose sinkt meine Motivation von einer auf die nächste Sekunde in die tiefsten nur erdenklichen Schluchten hinab, als mir gewahr wird, dass wir noch einen weiteren Gipfel vor uns haben, bevor wir den eigentlichen Galdhøpiggen erreichen. Passend zu meinen Gefühlen führt auch das Blockgelände im Gratverlauf des Svellnose steil hinab in die Einsattelung zwischen den beiden Gipfeln. Zum ersten Mal in meinem Leben kommt mir der Gedanke aufzugeben. Mir fehlt nach nahezu fünf Stunden einfach die Kraft über die immer größeren Steinblöcke hinweg zu kraxeln. Eine weitere kleine Pause und der Blick auf den Zielgipfel mobilisieren meine letzten Kräfte – die wirklich allerletzten.
Im Sattel zwischen dem Gipfel Keilhaus topp und dem Galdhøpiggen führen die Ausläufer des Piggbrean-Gletschers sehr nahe an den Weg heran. Der letzte Anstieg erfolgt über einen breiten Schotterhang, der kurz vor der Gipfelhütte wieder in ein Blockfeld übergeht. Am Gipfel öffnet sich der Blick in alle Himmelsrichtungen. Die fantastische Bergwelt des Jotunheimen Nationalpark liegt uns nun zu Füssen. Der Wahnsinn! Tränen der Erschöpfung und Erleichterung kann ich nur mit Mühe unterdrücken. Ich habe es tatsächlich geschafft. Noch nie in meinem gesamten Wanderleben hatte ich daran mehr Zweifel als an diesem denkwürdigen Tag.
Fazit unserer Wanderung auf den Galdhøpiggen
Was für Bergwanderer und Bergsteiger sicher kaum der Rede wert ist, war für mich die schwerste Wanderung, die ich jemals gemacht habe. Endlich kenne ich den Unterschied zwischen einer gemütlichen Streckenwanderung und einer schwierigen Bergtour. Bei der Besteigung des Galdhøpiggen handelt es sich nicht um ein bequemes Wandern auf ausgetretenen Pfaden im Gebirge, sondern um eine schwere Kraxeltour, für die man auf jeden Fall eine ausgezeichnete Kondition und die richtige Ausrüstung mitbringen sollte. Dazu gehören auf jeden Fall feste Bergwanderschuhe. Wanderstöcke sind nur beim Abstieg und dem Queren der Schneefelder zu gebrauchen. Beim Aufstieg sind sie über weite Strecken nicht einsetzbar. Bezogen auf eine Bergtour ist der Schwierigkeitsgrad wahrscheinlich eher als leicht einzuschätzen, es gibt keine Klettersteige oder schwierige ausgesetzte Passagen. Der Weg ist auf weite Strecken durch Markierung erkennbar, dennoch muss man bei den häufigen Kletterpassagen immer nach der Markierung suchen, da ein Weg im Blockfeld nicht mehr auszumachen ist. Unterhalb des Galdhøpiggen-Gipfels berührt der Weg den Gletscherausläufer des Piggbrean-Gletschers (den wir auf dem Rückweg mit viel Vorsicht gequert haben). Die Schneefelder (nicht der Gletscherausläufer!) sind bei der Besteigung des Galdhøpiggen noch die einfachsten Passagen und bringen auf dem Weg nach Unten noch ein bisschen Vergnügen in die Wanderung, da man sie häufig hinunterrutschen kann. So haben wir auf dem Rückweg wenigstens ein bisschen Zeit gut machen können. Für den Aufstieg haben wir fünfeinhalb Stunden benötigt und für den Abstieg vier Stunden, was deutlich über den Zeitangaben des norwegischen Wanderverbands (4/3) liegt.
Aus meiner Sicht ist die Besteigung des Galdhøpiggen keine Wanderung, sondern eine Gipfel-Besteigung, für die man Bergerfahrung mitbringen sollte. Aus der Sicht eines gestandenen Bergsteigers ist sie sicherlich nicht schwierig, für eine fünfzigjährige mittelmäßig trainierte Streckenläuferin aber schon ein harter Brocken. Meine jugendlichen Kinder haben die Tour übrigens sehr gut gemeistert. Dennoch würde ich eine solche Wanderung mit Kindern frühestens ab dem zwölften Lebensjahr empfehlen (wenn es keine Kinder mit Bergerfahrung sind).
Was war deine bisher schwerste Wanderung? Wir freuen uns über deine Geschichte dazu.
Liebe Christine,
Ich kann mir eure Tour und deine Qualen bildlich vorstellen. Wir sind vor Jahren von Spiterstulen in die andere Richtung gestartet, am Glittertind vorbei zur Hütte Glitterheim, dann weiter zur Hüttte Memurubu und über den Besseggen. Die angegebenen Zeiten haben wir auch nie geschafft, obwohl ich da noch fit wie ein Turnschuh war. Allerdings waren wir auch mit vollem Trekkingrucksack von 18kg unterwegs. Am ersten Tag haben wir 9 statt 5 (!!) Stunden gebraucht, da hatte ich Schiss vor dem weiteren Trek. An Tag 2 waren es wieder 9 statt 7 Stunden. Berichte habe ich im Blog, falls es dich interessiert. Der Jotunheimen ist insgesamt auf jeden Fall etwas für sportliche Wanderer
LG, Nicole
Hallo Nicole,
danke für deinen netten Kommentar, und dass dir mein Reisebericht gefallen hat. Ja, diese Bergbesteigung war für mich so eine gewisse Grenzerfahrung, oder aber der Wink mit dem Zaunpfahl, dass ich keine 20 mehr bin. Zu früheren Zeiten hätte ich das locker gerockt, aber wie gesagt, mit dem Alter lassen die Kräfte nach. Dazu kam auch noch, dass ich vor der Wanderung kaum geschlafen hatte, was sich sicherlich nicht positiv auf mein Leistungsvermögen ausgewirkt hat.
Deine beschriebene Tour kenne ich gar nicht, finde sie aber sehr spannend. Wir haben den Besseggen getrennt gemacht und ich wusste gar nicht, dass es zwischen den beiden Bergen eine Trekkingverbindung gibt, da diese doch recht weit auseinander liegen. Auf jeden Fall werde ich mir deinen Reisebericht darüber anschauen, damit mir bei unserer nächsten Reise nach Norwegen die Ideen nicht ausgehen. 😉
LG
Christine