Ein Reisebericht von Volker Otter
Mit dem Kanu durch die Prärien – eine neue Perspektive im Nirgendwo
Eins von diesen Dingen, die ich im Leben noch machen möchte: Durch die Prärien paddeln, aber wo? Auf dem Missouri River durch die Upper Missouri River Breaks? Auf dem Little Missouri River? Ja, das auch, meine Liste wird länger, aber diesen Sommer gehen wir sie an. Wir paddeln auf dem Milk River durch die zentralen Prärien des südlichen Albertas. Aber welche Etappe? Oberhalb der kleinen Gemeinde von Milk River mit Einsetzmöglichkeiten bei Del Bonita oder Whiskey Gap? Oder die übliche Route von Milk River bis zum Writing-On-Stone Provincial Park, wo wir uns gerade befinden. Wir entscheiden uns für die übliche Route, der Wasserstand ist hier durch den Zusammenfluss von Milk River und dem North Fork des Milk River gesichert. Warum ist die Route üblich? Wir wissen es nicht. Vielleicht, weil ab und an eine andere Kanupartie auf dem Fluss ist? Wir werden niemandem begegnen und später immer noch nicht wissen, warum dies der übliche Flussabschnitt ist, da er für uns alles andere als gewöhnlich sein wird.
Morgen werden wir abgeholt von Ken Brown, dem einzigen Verleiher von Kanus in Milk River (Milk River Raft Tours). Mit ihm hatten wir schon von Deutschland aus Kontakt aufgenommen. Eine Übersicht über die Route und eine generelle Flussbeschreibung hatten wir uns zu Hause schon ausgedruckt: (Übersichtskarte des Milk Rivers).
Ken wird uns nach Milk River bringen. Von dort werden wir in drei Tagen zurück zum Writing-On-Stone Provincial Park paddeln, die Prärien vom Fluss aus erleben – eine neue Perspektive. Während der Fahrt plaudern wir über Land und Leute und darüber, dass er vorher in Vancouver gelebt hat, dass Milk River mit seinen 900 Einwohnern aber der perfekt Ort für ihn sei, übersichtlich, mit Menschen, die helfen, wenn es Not tut, die man kennt in einem Örtchen, das alles bietet, was man braucht. Als Milk River in Sicht kommt, sehen wir am Horizont im milchigen Licht die Rockies dahinter aufragen.
Erster Tag – 18 km zum Campingplatz Gold Springs
Mittags sind wir auf dem Wasser. Wir machen uns mit der kräftigen Strömung vertraut, eine kurze dreistündige Etappe (18 km) bis zum regulären Campingplatz Gold Springs. Immer wieder rattern die Wasserpumpen, die dem Fluss Wasser entziehen, um oberhalb der Steilufer mit Dry Farming Techniken Getreide anzubauen. Noch sind wir im Randbereich der Zivilisation, lassen uns aber auch von mehreren Füchsen und Kanadagänsen am Ufer überraschen und stoisch dreinblickenden Eulen vor ihren Höhlen am Steilufer. Und dann kommt er schon der Campingplatz, wir sind noch früh dran, schlagen die Zelte direkt am Fluss in Alleinlage auf, ziehen von dort zur Badestelle und verbringen die nachmittägliche Hitze mit Spielen und Baden, bevor wir zurück zum Zelt gehen und staunen. Keine drei Meter von unseren Zelten erhebt sich eine monumentale Wagenburg aus sechs Wohnmobilen und Trailern eines Familientreffens, wir sind baff. Das ist ein Statement. Aber egal, alle sind friedlich, der Fluss rauscht uns in den Schlaf und wir sind am frühen Morgen weg.
Zweiter Tag – 33 km zum Campingplatz am Poverty Rock
Und der zweite Tag hat es in sich, wird uns an unsere Grenzen führen und zu einem der schönsten Plätze der gesamten Reise. Wir sind wie immer schon recht früh unterwegs. Ab jetzt sind wir im Nirgendwo. Schroffe, bis zu 50 m hohe Prallwände aus Sandstein oder Lehm wechseln sich ab mit flachen Ufern, die Blicke in die hügelige Prärie freigeben. An den Sandsteinklippen kleben unzählige Schwalbenkolonien, die Schwalben stieben auf und davon, wie eine Wolke. Einmal weht eine Schlangenhaut aus einem Erdloch im Hang. Adler kreisen über uns, an den Ufern ab und zu ein Hirsch, manchmal Kühe. Ein großer Kojote beäugt uns ruhig vom sicheren Ufer.
Heute sind wir alle gefragt, die Strömung heute ist schnell, im Flussbett viele buckelige Felsen, die es in Schwällen zu umrunden gilt. Und auch die Schwälle werden länger, das Navigieren verlangt Konzentration, um die Einfahrt in die richtige „Linie“ zu erwischen, um den Slalom um die Felsrücken zu bewältigen und nicht an die Prallwände gedrückt zu werden. Gut, dass unsere Kinder nun schon ausdauernde Jugendliche sind, die sich nicht sofort ins Bockshorn jagen lassen. Mit unserem Jüngeren fahre ich meistens als erstes Kanu in die Schwälle ein, um die bestmögliche Linie zum Fahren zu finden, manchmal kniffelig aber immer voller Action! Die Krux dabei, der Gegenwind ist heute so böig, dass er das Kanu bei der Einfahrt in eine Stromschnelle immer wieder ordentlich zur Seite drückt. Wir halten dagegen. So geht es einen großen Teil des Tages. Das ist kraft- und konzentrationsaufwendig. Da wir keine genaue topografische Karte haben, können wir nur vermuten, dass der Großteil der heutigen 33 Kilometer zum Backcountry-Zeltplatz am Poverty Rock fast geschafft ist. Und dann kommen sie, die letzten beiden Stromschnellen. Der Gegenwind ist wieder stark, eine hohe Prallwand, der quirlige Hauptstrom zieht mit mittelhohen Wellen und Gischt unmittelbar an ihr entlang, unterbrochen von großen runden Felsen, die es zu umfahren gilt. Wir kommen mit hohem Kraftaufwand in die Strömung, haben beim ersten Fels einen kleinen Aufsetzer, den zweiten umrunden wir und rauschen durch und ans Ufer, um dem zweiten Kanu behilflich zu sein. Die beiden haben mit dem Gegenwind zu kämpfen, kommen nicht gut in die „Linie“ und landen in einem ungünstigen Winkel vor der Stromschnelle am anderen Ufer an. Das Rauschen ist so laut, dass die Verständigung schwer ist. Klar ist irgendwann, dass sie Hilfe brauchen. Ich lasse unseren Jüngsten (mittlerweile ein stolzer Teenager) beim Kanu und quere den Fluss. Das Wasser geht mir bis zum Bauch und zerrt an mir. Drüben angekommen einigen wir uns darauf, dass ich das Kanu mit meiner Frau durch die Schnelle navigiere und unser Großer (größer als ich!) den Fluss zu Fuß zum ersten Kanu und seinem Bruder quert. Gott sei Dank ist das Wasser nicht kalt und die Luft warm. Wir rauschen durch und verschnaufen erst einmal. Wir booten wieder ein.
Ein paar hundert Meter weiter wiederholt sich das Ganze, eine leicht verblockte Schnelle, in der man einen Felsbuckel umfahren muss. Ein kurzer Aufsetzer, der uns durchschüttelt, das Kanu dreht sich zurück in die Strömung, die Prallwand ist nahe, aber wir rauschen durch. Auch diesmal holen wir das zweite Kanu nach. Wieder den Fluss durchqueren, diesmal mit meinem großen Sohn durch die Stromschnelle navigieren und unterhalb anlanden. Die Stimmung kippt, ist auf dem Tiefpunkt angelangt. Hier und jetzt auf einem feuchten Flecken die Zelte aufschlagen, da die Konzentration nicht mehr für weitere Schnellen reichen würde, die Kraft einfach nicht mehr ausreicht? Frustrierend. Wir besprechen uns und kratzen unsere gemeinsame Restmotivation zusammen, wissend, dass es nicht mehr weit sein kann! Spaß war vorhin irgendwann, jetzt ist Ernst. Wir steigen wieder ein. Und warum auch immer, der Fluss ist uns gnädig, macht eine Biegung, die hohen Ufer gewähren uns Windschatten und keine 500 Meter weiter fahren wir auf den Poverty Rock zu, das Ufer wird flach, gibt einen Talkessel zur Rechten frei, in dessen Mitte sich der Poverty Rock erhebt. Wir brauchen nur noch auf das sandige Ufer auffahren und sind da. Ausgepumpt. Die Schönheit des Platzes nimmt uns aber sofort in Beschlag. Ein Traum mit Hütte, die Schatten (!!!) wirft.
Schatten, den wir den ganzen Tag nicht gehabt haben. Und wir ganz allein. Zelte aufbauen, kochen. Und wir brauchen gar nicht viel reden. Im Gegenteil, eigentlich sind wir alle eher still… und glücklich. In den Gesichtern ein müdes Lächeln, diesen Ort mussten wir uns heute verdienen. Abends noch ein Bad im Fluss, der hier sogar tief genug für Arschbomben und Kopfsprünge ist und ein Spaziergang aus dem Talkessel hinaus, um die Einsamkeit und Schönheit dieser Landschaft zu bewundern. Oben umfliegt mich ein Greifvogel immer wieder. Unten im Lager beim Abendbrot dämmert uns, dass wir heute den Höhepunkt unserer gesamten Reise erlebt haben, dass wir heute an unsere Grenzen gegangen sind, diese ein Stück hinter uns gelassen und zusammen viel gewonnen haben, als Familie. Heute war es nicht nur Abenteuer, heute war es Ernst, heute hat’s gezählt, hier und jetzt im Nirgendwo.
Dritter Tag – 20 km zum Campingplatz Writing-On-Stone Provincial Park
Am nächsten Morgen lassen wir uns Zeit und lassen die Morgenstimmung noch ein wenig wirken. Der Fluss wird nach ein paar einfachen Schwällen langsamer, die hohen Prallwände verschwinden, geben den Blick in das offene Grasland frei. Rinder begleiten uns am Ufer, haben vermutlich schon länger niemanden mehr gesehen. Wir nähern uns dem Provincial Park, an den Ufern zeigen sich vereinzelte Cottonwood-Haine und verleihen der Landschaft etwas Liebliches. Wir fahren in den Park ein, am rechten Steilufer hängt der rote Beutel mit einer Opfergabe an einem Ast vor einer kleinen Höhle, auf den uns im Writing-On-Stone Provincial Park der Blackfoot-Elder aufmerksam gemacht hatte. Wir passieren den alten, historischen Posten der Royal Mounted Police, links erheben sich die Hoodoo-Formationen, den Rodeo-Platz lassen wir links liegen und erreichen schließlich den Campingplatz im Provincial Park. Wir booten aus, hinterlegen die Kanus am vereinbarten Ort und schlagen unsere Zelte auf, noch ein Bad und ein Spaziergang in die Hoodoowelt am Ufer des Milk River, abends genießen wir die tiefstehende und später untergehende Sonne mit ihrem Schattenspiel in zartrosa bis kräftig violett-blauen Farben, beobachten von unserem Platz direkt am Milk River zwei äsende Hirsche in der aufziehenden Dämmerung auf der anderen Flussseite, bevor wir mit der Dunkelheit ins Bett gehen.
Die letzte Etappe nach Calgary – das Ende einer ganz besonderen Reise
Wir haben unsere Reise mit der Großstadt Vancouver begonnen und beenden sie wieder mit einer Großstadt. Wir sind uns nicht sicher, ob es nur an der Stadt liegt oder daran, dass wir uns längst „eingegrooved“ haben. Aber Calgary ist für uns eine kleine sympathische Großstadt, mit Überbleibseln alter Größe. Wir lassen uns treiben, Straßenmusikanten, ein Social Beer House, Wolkenkratzer und das Denkmal für die Frauen, die dafür sorgten, dass Frauen in der Verfassung als Personen anerkannt werden, eine verrückte Geschichte mit Nachhall. Wir genießen den Bow River Park mit seinen Cafés, denken kurz an den winterlichen Banff Nationalpark zurück, als wir am Ufer des gleichen Flusses zelteten. Und ein wenig freuen wir uns auch schon wieder auf zu Hause. Es gibt viel zu erzählen.
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